Lokomotivdepot - Industriebrache - Kulturzentrum
Die Lokremise St.Gallen ist über 100 Jahre alt. Mit der Umnutzung zum Kulturzentrum 2010 eröffnet sich für die Anlage ein völlig neues Leben. Ursprünglich ein Depot für die Wartung von Dampflokomotiven, war sie Ende der 1980er Jahre zur Industriebrache geworden. Ihre Qualitäten als Ort der Kultur wurden 1999 entdeckt.
Hochblüte der Textilindustrie (1903-1911)
Mit der Lokremise St.Gallen wurde in den Jahren 1903-1911 ein Schweizer Pionierbau der Bahninfrastruktur errichtet. Zweck des von Carl Moser entworfenen Gebäudes war ursprünglich die Wartung von Dampflokomotiven. Mit ihren 21 Lokomotiv-Ständen und rund 80 Metern Durchmesser stellt die Lokremise das grösste Ringdepot der Schweiz dar. Aufgrund ihrer Eisenbeton-Konstruktion gehört sie auch international zu den Betonpionierbauten. Ihre im Jugendstil gestaltete Fassade erinnert an die Hochblüte der Ostschweizer Textilindustrie und an die direkten Zugverbindungen mit Paris.
Der Bau gilt als Industriedenkmal von nationaler Bedeutung. Zum Gesamtensemble gehören auch das Badhaus (1902), der Wasserturm (1906) – ebenfalls ein Betonpionierbau – und eine Aussenanlage. Im Badhaus waren Aufenthalts-, Wohn- und Waschräumlichkeiten für Eisenbahn-Arbeiter untergebracht. Der Wasserturm diente der Speisung von Dampflokomotiven mit Wasser sowie als Löschwasserreservoir.
Industriebrache beim Hauptbahnhof (Ende 1980er)
Mit dem Aufkommen der elektrischen Eisenbahnen nahm die betriebliche Bedeutung der Lokremise sukzessive ab, der Wasserturm beispiwelsweise wurde schon in den 1940er Jahren stillgelegt. Ende der 1980er-Jahre wurde die Lokremise für den Betrieb der SBB nicht mehr benötigt. Sie stand in der Folge leer und wurde zur Industriebrache.
Die Ära Hauser & Wirth (1999 bis 2004)
In den Jahren 1999 bis 2004 wurde die Lokremise von der renommierten Zürcher Kunstgalerie Hauser & Wirth genutzt. Die sanft umgestalteten Räume beherbergten die gleichnamige Sammlung und wurden während der Sommermonate für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst verwendet. Die Lokremise gewann in der nationalen und internationalen Kunstszene einen hohen Bekanntheitsgrad und fand darüber hinaus in der lokalen Bevölkerung grossen Anklang. Verschiedene Ausstellungen erzielten grosse Erfolge, 2003 etwa eine von Roman Signer. Sie machten das Gebäude als lebendige Drehscheibe des kulturellen Austauschs erlebbar. Im Jahr 2004 zogen sich Hauser & Wirth vorzeitig aus dem Projekt zurück, weil der Bau unter anderem wegen fehlender Isolation und Heizung nur im Sommerhalbjahr genutzt werden konnte.
Pläne für ein Kulturzentrum (2005)
Im Frühjahr 2005 erkannten die Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen und der Kanton St.Gallen die Chance, die Lokremise St.Gallen zu einer spartenübergreifenden Kulturplattform von überregionaler Bedeutung auszubauen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete die Eigentümerin der Lokremise, die SBB, an einem eigenen Nutzungskonzept, das auf eine gemischte und stark segmentierte Event- und Gewerbenutzung mit kultureller Ausrichtung setzte. Es drohte, die Qualität der Lokremise stark zu beeinträchtigen. Um den Wert der Anlage kulturell, architektonisch und baulich zu sichern, entwickelte der Kanton einen Vorschlag: Das von der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen lancierte Projekt „Tanz und Theater in der Lokremise“ soll zum spartenübergreifenden Kulturzentrum weiterentwickelt werden.
Erfolgreiches Provisorium (2006 bis 2009)
Von Herbst 2006 bis Juni 2009 wurde die Lokremise als Provisorium für verschiedenste Aktivitäten genutzt – in den Bereichen Kultur, Bildung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit über 500 Veranstaltungen konnte sie sich als Kulturort etablieren. Glanzlichter waren neben anderen die internationalen Anlässe zu „Schnittpunkt: Kunst und Kleid St.Gallen“, Tanzstücke der St.Galler Tanzkompanie, Samuel Becketts „Warten auf Godot“, gespielt vom Theater St.Gallen, ein Podium der Universität St.Gallen mit Daniel Libeskind zum Thema Ökonomie und Kultur, ein Poetry Slam „Tote vs. lebende Dichter“ oder das Volkskulturfestival „echos“. Der Erfolg dieser Veranstaltungen zeigte: Das Industrielle und Grosszügige der Anlage kommt gut an. Die Räumlichkeiten schliessen eine Lücke im Angebot der Ostschweizer Veranstaltungsorte.
Volksabstimmung (2008)
Die wichtigste Hürde nahm das Projekt „Kulturzentrum Lokremise“ am 30. November 2008. Die St.Galler Stimmbürgerinnen und Stimmbürger bewilligten den 22,64-Millionen-Kredit mit einem Ja-Anteil von 57,4 Prozent. Auffallend am Resultat war vor allem, dass auch eher konservative Gemeinden abseits der Hauptstadt St.Gallen „Ja“ gestimmt hatten.
Umbau (2009 - 2010)
Zwischen Juli 2009 und September 2010 hat der Kanton St.Gallen zusammen mit den Architekten Isa Stürm und Urs Wolf die Lokremise umgebaut. Das Zürcher Architektenteam hat ein Konzept entwickelt, das die Lokremise zum offenen und wandlungsfähigen Kulturaggregat am Geleisefeld macht. Dazu haben sie sich intensiv mit der Geschichte der Lokremise, mit den denkmalpflegerischen Auflagen und mit den Optionen der kulturellen Nutzung auseinandergesetzt. Der Umbau dieses Industriedenkmals aus der Hochblüte der Textilindustrie zu einem Kulturprojekt war für alle involvierten Baufachleute eine grosse Herausforderung.
Die Kosten für den Erwerb und den Umbau der Lokremise St.Gallen belaufen sich auf insgesamt rund 22 Mio. Franken.
Eröffnung (September 2010)
Mit der Eröffnung der Lokremise St.Gallen erhalten Kanton und Stadt St.Gallen eine zukunftsträchtige spartenübergreifende Kulturinstitution. Theater, Tanz, Kunst und Film sind in das umgebaute Lokomotiv-Ringdepot eingezogen. Am 12. September 2010 wurde das neue Kulturzentrum festlich eingeweiht.
Raumaufteilung durch Kuben
Heute unterteilen drei selbstständige Kuben im Haus-im-Haus-Prinzip den Rundbau in vier verschiedene Zonen, zwei Theaterzonen, eine Kunst- und Performancezone sowie eine Allgemeinzone mit Eingangsbereich mit Restaurant. In den eingebauten Kuben sind ein Kinosaal, eine Restaurantküche und eine Theatergarderobe samt Nebenräumen installiert. Ein sichelförmiger Anbau im runden Innenhof gewährleistet den unabhängigen Zugang von der Eingangszone zu den Theatersälen und Nebenräumen. Die vier offenen Raumzonen, die durch die Einheiten ausgeschieden werden, machen die grosszügige Weite des Innenraumes der Lokremise mit seinem frühindustriellen Raumcharakter erlebbar.
Badhaus und Wasserturm
Zusätzlich wurde auch das Badhaus sanft saniert, das Büro- und Lagerräume für die Lokremise sowie eine Künstlerwohnung enthält. Der Wasserturm des Betonpioniers Robert Maillart, wurde einer Aussenrenovation unterzogen. Im Sommer 2013 wurde die monumentale Installation The House of Friction (Pumpwerk Heimat) von Christoph Büchel (*1966) im Wasserturm der Lokremise St.Gallen wiedereröffnet. Das spektakuläre Werk mit Unzähligen verwinkelten Wohn- und Lebensräumen, durch die man sich kletternd, duckend oder rutschend bewegt, zwischen Fiktion und Realität angesiedelt, wurde 2002 für die Ausstellung The House of Fiction in der Sammlung Hauser und Wirth realisiert und ist nach umfangreichen Instandsetzungsarbeiten als einzige permanente Installation des Ostschweizer Künstlers von internationalem Rang der Öffentlichkeit zugänglich. Bitte gesonderte Öffnungszeiten beachten!